In einer Kita stehen Stühle umgedreht auf einem Tisch

Umfrage zur finanziellen Lage sozialer Arbeit

Wohlfahrtsverbände warnen vor Zusammenbruch sozialer Infrastruktur

Viele soziale Angebote in ganz Deutschland drohen vollständig wegzubrechen, da gestiegene Kosten finanziell nicht ausreichend kompensiert werden können. Trotz steigender Nachfrage mussten vielerorts bereits Angebote und Hilfen eingeschränkt bzw. reduziert oder sogar ganz eingestellt werden. Darüber hinaus drohen kurzfristig weitere Kürzungen ihrer Einnahmen. Das sind die erschütternden Befunde einer bundesweiten Umfrage von Arbeiterwohlfahrt (AWO), Paritätischem Gesamtverband und der Diakonie Deutschland, an der sich mehr als 2.700 gemeinnützige Organisationen und Einrichtungen aus dem gesamten Spektrum sozialer Arbeit beteiligten. Die Wohlfahrtsverbände warnen, dass sich hier eine Katastrophe für die soziale Infrastruktur anbahne und fordern den Bund auf, von angekündigten Haushaltskürzungen Abstand zu nehmen. Was es jetzt brauche, seien zudem eine konzertierte Aktion von Bund, Ländern und Kommunen sowie einen ambitionierten steuer- und finanzpolitischen Kurswechsel. In einem Statement verdeutlicht Andrea Büngeler, Landesgeschäftsführerin des Paritätischen NRW, wie die soziale Infrastruktur in NRW aufgestellt ist und ruft zur gemeinsamen Kundgebung mit der Freien Wohlfahrtspflege NRW am 19. Oktober in Düsseldorf auf.

Finanzielle Lage kann alleine nicht gestemmt werden

Insgesamt verzeichnen die befragten Einrichtungen eine Kostensteigerung um durchschnittlich 16 Prozent seit Anfang 2022. Die Ergebnisse belegen, dass in der Praxis kaum ein Weg unversucht bleibt, aus eigenen Kräften die schwierige finanzielle Lage zu bewältigen. Fast jede dritte befragte Einrichtung musste zur Kompensation sogar Personal abbauen bzw. plant Entlassungen. Auch die Möglichkeit, Kostensteigerungen durch höhere Beiträge für Nutzer*innen auszugleichen, scheint weitgehend ausgereizt und führt bereits zu ersten Verwerfungen. Laut der Problemanzeigen aus der Praxis können sich viele, die besonders auf Unterstützung angewiesen sind, Angebote inzwischen nicht mehr leisten, und in der Praxis komme es zu Unterversorgungslagen und neuen Ausschlüssen.

Weitere Reduzierung der Angebote zu befürchten

Laut Umfrage mussten bundesweit bereits 40 Prozent der befragten Organisationen und Einrichtungen Angebote und Leistungen für Klient*innen aus finanziellen Gründen einschränken oder ganz einstellen. 65 Prozent der Befragten gehen davon aus, kurzfristig Angebote und Leistungen weiter reduzieren zu müssen.

Enorme Konsequenzen für Gemeinwesen

59 Prozent aller Befragten rechnen zudem in den kommenden Monaten mit (weiteren) Einschnitten auf der Einnahmeseite. Im Ergebnis bedeutet das sowohl quantitative als auch qualitative Einschränkungen zu Lasten der sozialen Infrastruktur. Sollte hier nicht entschlossen gegengesteuert werden, hätte dies „enorme Konsequenzen für unser Gemeinwesen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und all jene Menschen, die in schwieriger Lebenslage auf Hilfe, Beratung, Unterstützung und einen stabilen Sozialstaat angewiesen sind“, warnen die Wohlfahrtsverbände.

Hohe Teilnahme an Online-Umfrage

Die teilstandardisierte Online-Umfrage fand im Zeitraum vom 29. September bis zum 10. Oktober 2023 statt. Der Rücklauf von 2772 validen Fragebögen war trotz der Kurzfristigkeit groß. Insgesamt sind in den teilnehmenden Organisationen/Einrichtungen mehr als 261.721 Menschen beschäftigt. Im Tagesdurchschnitt werden durch die befragten Organisationen/Einrichtungen insgesamt rund 377.112 Menschen beraten, betreut oder versorgt.

Stimmen von der Arbeiterwohlfahrt, dem Paritätischem Gesamtverband und der Diakonie Deutschland

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands: „Die Leistungen der Freien Wohlfahrtspflege sind systemrelevant. Wer hier einschneidet, schadet letztlich auch dem Wirtschaftsstandort Deutschland und gräbt der Wirtschaft das Wasser ab. Das sollte sich der Finanzminister hinter die Ohren schreiben. Und dann müssen Taten folgen.“

Ulrich Lilie, Präsident Diakonie Deutschland: „Bei einem Bundeshaushalt von rund 446 Milliarden Euro mögen die Kürzungen in verschiedenen sozialen Bereichen vielleicht gering erscheinen. Sie richten aber großen Schaden an. Wer in Zeiten großer Unsicherheit und gesellschaftlicher Umbrüche nicht in Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit sowie in eine stabile soziale Infrastruktur investiert, wird später ungleich höhere Summen für die Lösung der sozialen Folgeprobleme aufwenden müssen. Wer heute kürzt, zahlt morgen drauf.“

Michael Groß, Präsident des Arbeiterwohlfahrt Bundesverbandes (AWO): „Unsere Umfrage belegt: Der Haushaltsentwurf des Finanzministers wird der Realität der sozialen Arbeit nicht gerecht. Wir müssen dringend die Frage stellen, auf welche Schultern die Belastungen von Rezession und Preissteigerungen verteilt werden. Es ist ungerecht und unvernünftig, zulasten gemeinnütziger Träger und deren Klient*innen zu sparen. Nur eine Kehrtwende in der Steuerpolitik sichert eine gute Zukunft für die soziale Infrastruktur."

Statement von Andrea Büngeler, Landesgeschäftsführerin des Paritätischen NRW

„Es ist fünf vor zwölf! Die Umfrage zeigt wieder einmal, dass die soziale Infrastruktur in NRW nicht auskömmlich finanziert ist. Die Träger versuchen alles, um den Kostendruck auszugleichen. Doch am Ende bleibt nur die Reduzierung oder Schließung von Angeboten, betroffen sind alle Handlungsfelder der sozialen Arbeit. Wenn die Versorgung von Kindern, älteren Menschen und Menschen mit Behinderung nicht mehr gewährleistet werden kann, hat dies massive Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und die Wirtschaft. Gesellschaftliche Folgekosten sind da noch gar nicht berücksichtigt. Damit NRW sozial bleibt, braucht es ein Bekenntnis zum Wert sozialer Infrastruktur für die Menschen in NRW. Daher rufen wir gemeinsam mit der Freien Wohlfahrtspflege NRW zu einer Kundgebung am Donnerstag, 19. Oktober, um 11.55 Uhr in Düsseldorf auf. Mitarbeitende und Nutzer*innen sozialer Einrichtungen sind ebenso gefragt wie Bürger*innen und Wirtschaft: Kommt nach Düsseldorf, zeigt gemeinsam mit uns Flagge vor dem Landtag!“.

 

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